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Offener Brief zum Thema Brennernordzulauf

von Bundesbahndirektor Müller an MdB Daniela Ludwig

Sehr geehrte Frau Ludwig,

ich beziehe mich auf Ihren Antrag, der Bundestag möge sich möglichst bald mit dem Brenner-Nordzulauf
auseinandersetzen und „bessere Alternativen“ diskutieren.
Der diesbezügliche Bericht im OVB vom 12.06.2024 lässt erkennen, dass es hierbei aber nur um zusätzliche
Tunnelabschnitte der Neubaustreckenvariante handelt, die aus Sicht der dort stark betroffenen Gemeinden
wünschenswert sind.
Ich vermisse seit langem eine sachliche Auseinandersetzung mit folgenden Hauptthemen:

  1. Die Funktionsfähigkeit des Brennernordzulaufs muss schon mit Inbetriebnahme des Brennerbasistunnels hergestellt
    sein, also mindestens zehn Jahre früher als mit dem Neubaustreckenkonzept. Das ist möglich, weil der Abschnitt
    Kufstein-Rosenheim schon vor 25 Jahren (als ABS 40) für eine höhere Leistungsfähigkeit ausgebaut wurde.
    Deutschland käme gegenüber Österreich und Italien nur in Verzug, wenn die Ausbaustrecke München-Mühldorf-
    Freilassing (-Salzburg) weiterhin fahrlässig ohne Priorität behandelt würde.

  2. Der Bedarf, den Brennernordzulauf leistungsfähiger zu machen, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Insofern
    zweifle ich nicht an der im Raumordnungsverfahren zu Grunde gelegten Prognose (400 Züge/Tag an der
    Übergabestelle Kufstein). Diese große Zahl ist allerdings erst schrittweise möglich, wenn auch im Südzulauf nach und
    nach die gesamte Strecke viergleisig ausgebaut ist. Das wird noch sehr lange dauern.

  3. Der Bedarf für eine Strecke, die mit 230 km/h befahren werden kann, ist äußerst fragwürdig. Wie viele Züge sollen
    denn diese Geschwindigkeit in unserer Region fahren? Die Züge, die Rosenheim anfahren jedenfalls nicht. Es bleiben
    nur sehr wenige Züge, für die diese extrem teure Projektanforderung nützlich ist.

  4. Das mit meiner Unterstützung von den Bürgerinitiativen und dem BUND Naturschutz entworfene Alternativkonzept
    (ich gehe davon aus, dass es Ihnen bekannt ist) wird vom Projektteam der Bahn abgelehnt, weil es angeblich nicht die
    verkehrlichen Ziele des Bundesverkehrswegeplans erfüllt. Das ist nur vordergründig richtig und gilt nur für die relativ
    nutzlose Geschwindigkeit 230 km/h. Alle anderen Ziele sind mit unserem Alternativkonzept wesentlich schneller,
    billiger und wirkungsvoller zu erreichen.

  5. Das Neubaustreckenkonzept verursacht folgende wesentlichen Konflikte:

    – Überlastung der weiterhin zweigleisigen Strecke Grafing-München
    – Überlastung des Knotens München
    – Hoher CO2-Verbrauch, kaum zu kompensieren

    Wie sind diese absehbaren Konflikte erfasst, planfeststellungsrechtlich beurteilt und finanziell bewertet?

  6. Hinsichtlich der Bundesverkehrswegeplanung ist festzustellen, dass unser Alternativvorschlag in wesentlich
    größerem Umfang den Zielen der Bundesverkehrswegeplanung entspricht. Die verbesserte Erschließung der Region
    durch Schienenverkehr, die Vermeidung der Überlastung des Knotens München und die Verringerung der
    Inanspruchnahme von Natur, Landschaft und nicht erneuerbaren Ressourcen sind erheblich bedeutender als der
    marginale Vorteil durch sehr wenige Züge, die 230 km/h fahren können. Der prognostizierte Güterverkehr kann in
    vollem Umfang auf die Schiene verlagert werden.

  7. Aus der Sicht einer Sachdiskussion muss man feststellen, dass der Bundesverkehrswegeplan beim Projekt
    Brenner-Nordzulauf hinsichtlich der allgemeinen Ziele ein erhebliches Defizit aufweist. Der Bundesverkehrswegeplan
    ist keine Festlegung für immer, er muss den aktuellen Erkenntnissen und neuen oder veränderten Anforderungen
    entsprechend aktualisiert („fortgeschrieben“) werden. Das Projektteam der Bahn sieht sich offensichtlich an seine
    Aufgabenstellung gebunden und behandelt dies Themen nur „formaljuristisch defensiv“, was ich verstehen kann.

Ergebnis:
Die hiermit vorgeschlagene Sachdiskussion muss baldmöglichst beginnen. Es besteht die Gefahr, dass es zu kaum
abschätzbaren Verzögerungen kommt, denn:

– Ein Nutzen/Kostenverhältnis von über 1,0 ist nahezu ausgeschlossen

– Die in den Planfeststellungsverfahren erforderliche Abwägung (mit Alternativen Prüfung) wird die
Genehmigungsfähigkeit verhindern, spätestens bei gerichtlicher Überprüfung

– Es wird sehr schwierig sein, die für die Realisierung erforderlichen Finanzmittel bereitzustellen

Ich habe bei vielen Politikern (fast aller Parteien) den Eindruck, dass sie etwas Nützliches unterstützen wollen, aber
die gesamte Problematik nicht richtig beurteilen können. „Mehr Geld für die Schiene ist gut“, ja richtig, aber es muss
trotzdem richtig eingesetzt werden.

Ich bitte Sie, sich zum Nutzen der Region, der Bahn und des Bundes sachlich mit diesen Themen zu befassen.

Mit freundlichen Grüßen
Gerhard H. Müller

Bundesbahndirektor a.D.

ehemaliger Projektleiter vieler großer Bahnprojekte